Claudine mag Facebook nicht – und keine weichen Eier. Dafür schätzt sie Schuhe, die so spitze Absätze haben, dass man damit problemlos Vampire pfählen könnte. Sie ist eine fanatische Gummi-Entensammlerin, und sie verlässt niemals das Haus, ohne sich die Lippen blutrot zu schminken.
Das ist Claudine.
Und genau diese Claudine steht vor meinem Badezimmerspiegel. Seit Stunden. Sie bearbeitet ihr Gesicht mit Pinseln und Schminktöpfen. Ich sehe Farben, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie existieren. Das muss auch so sein. Wir sind zu einer Party bei alten Freunden eingeladen, und Claudine gibt wirklich alles. Nach einer ermüdenden Ewigkeit sind die Zähne dran. Sie schrubbt engagiert mit einer Zahnbürste in ihrem Mund herum, und dann kommen die seltsamen Geräusche dazu.
„Mischt… mischt… scheische… scheische…“
Sie starrt in den Spiegel und zerrt ihre Oberlippe bis fast über die Nase.
„Scho ein Scheisch… gibtsch do nüsch…“
Sie tippt mit dem Zeigefinger auf ihr Zahnfleisch.
„Guck mal. Weia…“
Ihr Zahnfleisch ist ein flammendes Lavameer. Eine brutale Kraterlandschaft. Knallrot und Entzündet. Auf dem Waschbecken liegt eine riesige, weiße Tube.
„Was ist das für ein Zeug? Das ist nicht von mir. Was sind das überhaupt für Zeichen auf dem Teil?“
„Die hab ich mir da hinten (sie wedelt mit einer Hand in Richtung Westen) in so einem Billigladen hinter der Greifswalder gekauft. Nur 99 Cent und das soll die Zähne richtig weiß machen. RICHTIG WEIß, nicht nur so ein bisschen. Strahlend eben, verstehst, du? Das ist ein Superschnäppchen.“
Natürlich verstehe ich. Womöglich ein heimlicher Exportschlager aus Nordkorea, der auf verschlungenen Wegen direkt in meinem Badezimmer gelandet ist. Die Tube hat durchaus etwas Faszinierendes.
„Diese Zeichen… könnten koreanisch oder chinesisch sein… oder vielleicht eher kantonesisch… oder…“
Es lohnt nicht, die Sorgenfalte auf Claudines Gesicht detailliert zu beschreiben, aber, sie ist gewaltig, mit vielen kleinen, eleganten Verästelungen.
„Meinst du, das ist keine Zahnpasta? Der Verkäufer hat das doch gesagt.“
„Das könnte sonst was sein. Der Verschluss ist doch viel zu groß für eine Zahnpastatube. Und überhaupt… die Zeichen hier kann ich nicht mal googlen… könnte auch ein Chromreiniger sein… oder sonst was…“
Claudine ist trotz üppiger Gesichtsbemalung mittlerweile leichenblass.
„Oh Gott, oh gott… was jetzt… tu was… mir ist ganz schlecht“
Der beste Freund tut also was. Der Laden macht um 19 Uhr zu. Sieben Minuten habe ich noch. Eine Hetzjagd durch eisige Straßen, in der rechten Hand die schneeweiß strahlende und womöglich teuflische Tube. Ich schiebe sie dem Dickerchen in dem Laden über den Tisch. Er hat auf mich keine Lust. Da liegt ein angebissenes Cremehörnchen auf dem Tisch, Krümel kleben in seinen Mundwinkeln und eigentlich wollte er gerade die Rollos runterlassen.
Ich: „Was ist das?“
Er: „Na, Zahnpasta.“
Ich: „Steht aber nicht drauf.“
Er: „Wollen se jetzt auch noch nen medizinischen Beipackzettel für ne 99 Cent Zahnpasta?“
Er lacht blöde. Sein Doppelkinn freut sich gleich mit.
Ich: (gereizt) „Ich will wissen, was das hier ist. Jetzt.“
Er wackelt übellaunig und O-beinig nach hinten in den Laden, holt einen alten Pappordner, prüft, vergleicht und freut sich.
„Das ist wirklich Zahnpasta. Ich hab die Nummern verglichen. Kommt irgendwo aus Asien her. Läuft gut. Ich hab noch keine Beschwerden gehört. (mit anklagender Stimme) Sie sind der Erste, der hier Stunk macht. Was kann ich dafür, wenn Ihre Freundin nich weiß, wie man ne Zahnpasta benutzt? Die hat wohl in der ersten Klasse nicht aufgepasst. Is jedenfalls nicht mein Problem.“
Thema erledigt. Hinter mir knallen die Rollos des Ladens runter. Der Kerl dreht das Licht aus. Wahrscheinlich rammt er jetzt seine Zähne triumphierend in das Kuchenteilchen.
Eine halbe Stunde später laufe ich mit Claudine die Bötzowstraße herunter. Sie wirkt entspannt und auf merkwürdige Weise auch sehr selbstzufrieden.
Es provoziert mich.
Grenzenlos sogar.
„Tut´s noch weh? Es muss doch weh tun. Wenigstens ein bisschen.“
„Ist ein fieses Kribbeln. Geht aber. Wo hast du eigentlich die Tube gelassen?“
„ Na, weggeworfen.“
„Waaaaas? Mach keinen Quatsch. Wieso denn?“
„Weil es gefährlich ist? Vorhin warst du doch noch panisch.“
Sie lacht hysterisch.
„Mann, 99 Cent. Guck dir doch mal an, wie weiß meine Zähne sind. (Sie reißt theatralisch den Mund auf) Nur 99 Cent!!! P. hat sich für dreihundert Euro die Zähne bleachen lassen, und die sind immer noch verkalkt und gelb. Die wird sich gleich wundern, wenn die das hier sieht. Aber so richtig… das verspreche ich dir… gleich morgen hole ich mir noch ein paar Tuben von dem Zeugs.“
Wir stapfen schweigend durch die Straße. Ab und zu lächelt sie prüfend in die dunklen, aber dennoch spiegelnden Fensterscheiben und nickt sich selbst zu.
Und die Claudine in der Scheibe lächelt strahlend zurück.