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DU, ICH GLAUB, ICH MUSS MAL …

Pass

Claudines Gesicht ist angespannt. Sie hockt auf dem Beifahrersitz meines Wagens, presst die Kiefer aufeinander und legt die Stirn in Falten. Vielleicht denkt sie über Lösungswege aus der globalen Krise nach, oder steht kurz davor,  einen Durchbruch in der Krebsforschung zu verkünden. Zumindest blickt sie so konzentriert durch meine Windschutzscheibe, dass ich Großes erwarte.

„Du … ?“, sagt sie und ihre Stimme klingt rau, wie die eines Seewolfes.

„Ja?“

„Ich … kann nicht mehr … Ich muss sofort auf Toilette … jetzt sofort …“

Es ist erwartungsgemäß enttäuschend.

„Schon wieder? Wir wollen ins Theater. Das ist jetzt schon superknapp. Du warst doch eben erst, bevor wir losgefahren sind.“

„Mann … das war vor einer halben Stunde. Ich hab doch einen Liter Tee getrunken. Hast du wohl vergessen, was?“, sie blickt mich mit verengten Augenschlitzen an, wie sie es immer tut, wenn sie jedes meiner Worte auf ihre Claudine-Waage legt.

„Warum …“, und ich lege einen besonders zartfühlenden Ton in meine Stimme, „habe ich nur mit Frauen zu tun, die offenbar über eine erbsengroße Blase  verfügen?“

„Weiß nich, weiß nich …“  Sie wedelt mit den Armen vor meiner Nase herum.  „Da ist eine Tankstelle, halt da an … schnell … schnell …“

Der Wagen rollt noch. Sie reißt die Beifahrertür so schnell auf, als wäre sie ein SEK-Beamter im Einsatz, rast mit ihrer engen Lederhose in einem olympiareifen Spurt über die Wiese und verschwindet in der Tankstelle.

Es ist erstaunlich, dass es Menschen gibt, die den minütlichen Gang zur Toilette ritualisiert haben – ganz so, als würden sie Luft holen.

Ich erinnere mich an einen Urlaub in Kuba. Die Infrastrukturen dort waren erbämlich, aber in der Weite der letzten Ödnis ließ sich noch ein kleiner Bretterverschlag finden, der einer Toilette nachempfunden war und auf dessen  Holz (mit roter Farbe bemalt)  dem wackeren Touristen für seine Erleichterung genau ein Dollar abverlangt wurde. Immer und überall: Ein Dollar. Ein Kfz-Mechaniker aus Aachen beklagte sich damals bei mir über seine Freundin. Tatsächlich schaffte sie es  problemlos,  in einem mehrwöchigen Urlaub mehrere hundert Dollar zu verurinieren. Futsch. Einfach so.  Die Reisekasse aufs Übelste geplündert. Davon erzähle ich Claudine natürlich nichts. Es würde sie nur kränken.

Zwanzig Minuten später erreichen wir das Theater, gehen über rote Läufer und erreichen die Garderobe. Claudine reicht mir ihren Mantel.

„Du … ich verschwinde noch mal kurz, ja?“

Was soll ich ihr entgegnen?  Nein, du musst endlich lernen deine Blase zu beherrschen. Und wenn sie nicht hören will, dann unterjoche sie gefälligst, zwinge sie in die Knie, und dann mach sie fertig. Du bist der Boss. Selbst wenn ich es gewagt hätte, es wäre zu spät gewesen. Hinter Claudine ist längst die antikweiße Toilettentür zugefallen.

Als sie nach fünf Minuten nicht zurückkehrt, erfasst mich eine leiche Unruhe. Nach weiteren fünf Minuten kommt das Gefühl kultivierten Zornes hinzu. Eine Glocke schrillt einmal, das Zeichen für das gleich beginnende Stück und die Aufforderung, langsam den Platz einzunehmen.

Dann endlich kommt Claudine auf mich zu, seltsam verkrampft und knallrot im Gesicht. „Weia … Mist … weißt du, was passiert ist?“

„Woher soll ich das wissen? Bei dir ist theoretisch alles möglich.“

Sie zeigt auf ihre Lederhose. „Ich kriege den Reißverschluss nicht auf. Er hat sich total verkantet.  Was jetzt? Was soll ich jetzt machen … Mann, mann … kannst du nicht mal …? Echt, das ist ein Notfall …“

„Was? Soll ich hier mitten im Gang deine Hose aufreißen?“

„Nein … dann … also … komm,  wir gehen schnell mal auf die Toilette. Echt … ich steh das Stück so nicht durch …  im Ernst jetzt … also … bitte, bitte …“  Ihre Züge erinnern an ein fünfjähriges Kind, dem das Hopseseil zerrissen ist und das darum keinen Sinn mehr in seinem Leben erkennen mag.

Wir gehen auf die Damen-Toilette.  Meine inneren Proteste möchte ich nicht beschreiben, aber sie sind gewaltig. Vor dem Spiegel stehen zwei kalkweißgeschminkte Omis , die sich blutroten Lippenstift  auf ihre zerknitterten Münder pinseln – zwei Vampirinnen, die über meine Anwesenheit überrascht sind. Blitzschnell huschen sie mit ihren Handtaschen an mir vorbei – nichts wie raus hier –  nicht einmal ein paar Sekunden haben sie sich für ihre Empörung gegönnt. Macht nichts, kann man ja am nächsten Tag bei Kaffee und Kuchen ausführlich durchschimpfen, diese Sache mit dem Mann auf der Damentoilette.

Dann geht es los.

Der Kampf mit dem Reißverschluss gleicht dem Versuch, dem  spartanischen Heer mit einem Zahnstocher entgegenzutreten und auf einen positiven Ausgang zu hoffen.

Zuppeln. Reißen. Zerren.

Das verdammte Ding bewegt sich keinen Zentimeter. Claudine sitzt ermattet auf dem Toilettendeckel. „Was jetzt? Was soll jetzt nur werden?“

„Vielleicht hast du dir den Druck nur eingebildet. Musst du … wirklich? Also, ich meine, ist es wirklich so ernst?“

„Total. Der Stress jetzt hat mir den Rest gegeben. Ich bin absolut down. Ich werde verrückt, wenn ich die Hose nicht aufkriege … ganz echt … tu doch was, bitte.“

Es ist einer dieser raren Momente, in denen sich Claudine geschlagen gibt und auf den großartigen Geist ihres besten Freundes hofft. Bitte sehr, ich liefere prompt und ohne Verzug:

„Wir müssen den Reißverschluss rausschneiden.“ Nur für einen kurzen Moment fühle ich mich wie ein Feldarzt, der einen verwundeten Soldaten die Amputation seines Lieblingsbeines vorschlägt.

„Was? Du willst meine Hose zerstören?“

„Ich sehe keine andere Möglichkeit“, und  bei meiner schwerwiegenden Diagnose klinge ich besonders seriös und entschieden.

Sie presst die Schneidezähne auf ihre zitternde Unterlippe. „Na gut. Dann tu es.“

Draußen laufen die Menschen fröhlich plaudernd in den Theatersaal. Hier und da wird ein Sektglas geschwenkt – und niemand ahnt etwas von meiner Mission. Am Buffett steht eine vielleicht fünfzigjährige Dame mit tiefschwarz gefärbtem Haar. Sie trägt ein Kellnerinnen-Outfit. Als ich sie um ein Messer bitte, sagt sie nur:

„Wat wolln se`n damit?“

„Ich wollte nur ein Lachsbrot in der Mitte durchschneiden.“ Meine ärztliche Schweigepflicht verbietet es mir, die Wahrheit zu sagen.

„Ach wat, die Lachsdinger sind doch schon so kleene. Wat wolln se denn da noch teilen?“ Sie reicht mir ein rundes Messer herüber.

„Haben sie was spitzeres?“

Sie greift unter ihre Theke und drückt mir einen skalpellähnlichen Gegenstand in die Hand. „Ham se recht. Spitzer is besser. Janz klar. Die nehmen hier immer ollet Brot, is hart wie Zwieback. Da müssen se kräftig rinschneiden. Ick sags Ihnen. Aber pssschh … muss ja keener hören, wa?“

Nein, das sollte keiner hören. Das bin ich meiner Assistenten schuldig.

Die anschließende Operation führe ich punktgenau durch.  Beherzt trenne ich die Nähte auf einer Seite des Reißverschlusses und ignoriere Claudines glänzende Stirn, über die knödelgroße Schweißperlen kullern. Keine Sorge. Meine Hände sind präzise Instrumente. Ein Scheitern kommt nicht in Frage. Als ich den OP-Saal verlasse, bin ich durchaus zufrieden. Und auch meine Patientin hat sich recht schnell mit ihrer veränderten Lebenssituation zurechtgefunden: Hose kaputt – aber Leben gerettet.

„Mann, mann, das war wirklich in der letzten Sekunde.“ Claudine zerrt ihren Wollpullover über die Hüften und verdeckt den Reißverschluss. „Sieht auch keiner. Perfekt.“

Im Foyer ist es seltsam still. Die Besucher sind alle im Theater. Aus dem Innenraum dringen laute Stimmen, die direkt von der Bühne zu kommen scheinen. Als ich Eingang B ansteuere, wedelt die dürre Platzanweiserin mit den Händen.

„Das Stück läuft schon seit zehn Minuten. Tut mir leid. Sie können erst wieder in der Pause rein“, und dabei  flattert ihr dünnes blondes Haar so sehr, als hätte sie sich aus großer Höhe in die Tiefe gestürzt.

„Wir kommen wirklich nicht rein?“

„Wirklich.“

„Echt?“

„Echt.“

Toll. Fantastisch. Für mich bleibt das Theater wegen des praktizierten Urin-Terrors meiner besten Freundin verschlossen. Ich denke über das Für und Wider eines halben Theaterstücks nach, da ruft Claudine:

„Ach, ist doch nicht so schlimm.  Komm, dann gehen wir eben was trinken. Ich hab totalen Durst.“ 

Trinken. Toilette. Trinken. Toilette. In diesem Moment durchschaue ich den  teuflischen Kreislauf in Claudines Lebens. Er ist wie ein Strudel, der uns alle in die Tiefe reißt und bei dem selbst alle Rettungsringe dieser Erde versagen würden.

Erleichtert, fast fröhlich, als würde sie im Sommerwind über eine prachtvolle Wiese laufen, stolziert sie zum Ausgang. „Kommst du?,“ ruft sie.

Sie hat es eilig. Natürlich.

Irgendwann wird ja bald wieder die Sonne aufgehen.

So wenig Zeit – und so viele Berliner Toiletten, die es in dieser Nacht noch zu erkunden gilt.