„Ach nee, nee, nee, nee… dass das mal so zuende geht.“ Mirko der Maler stützt sich auf den kleinen Tresen in der Videothek und streicht mit seinen beklecksten Fingern immer wieder über seinen Bauch. Dann nimmt er einen langen Zug aus seiner Bierpulle. „Traurig ist das, richtig traurig. Zum Heulen.“ Daraufhin entleert er die Pulle in einem einzigen Zug und stellt sie mit einem dumpfen Geräusch und glasigen, starren Augen auf den Tisch.
Der Herr der Videothek, G., zieht seine buschigen Augenbrauen zu zornigen, pelzigen Bögen hoch. „Ja, jetzt jammert ihr hier rum. Hättet ihr mal mehr Filme ausleihen müssen und nich immer nur zum Dummrumquatschen hier reinkommen. Jetzt ist es vorbei. „ Er schmeißt die Lade seiner Kasse zu. „So!“ In die Auslage des kleinen Schmuddelladens stellt er ein handgemaltes Schild: .Alle Filme werden heute verschenkt.
„Jetzt können die Geier kommen und sich ihr Futter holen.“ Sein blondiertes Haar hängt trübselig über den Augen.
Ich kann es einfach nicht fassen. Es ist wirklich das Ende. Jahrelang habe ich hier in Prenzlauer Berg meine Filme ausgeliehen. Sogar mehr als das: G. war mein Lebensberater, mein Freund und Vertrauter. Für die meisten im Kiez. Jedesmal, wenn ich eine neue Freundin im Schlepptau hatte, folgte der Gang zum Videothekenmann. Er war das gnadenlose Beziehungsorakel. Jede Frau musste über den verfilzten Teppich mit den gelblich-braunen Brandlöchern laufen, eine Runde durch den Laden drehen und sich seinem prüfenden Blick stellen. Seine Urteile unter vier Augen waren gnadenlos:
Nummer 1 – LISA: Also, die hat so´n hektisches Zucken auf´m linken Augenlid. Lass die mal sein. Haste nur Stress mit. Kannste glauben.
Nummer 2 – JANIN: Boah, also nee, mach jetzt bloß keinen Mist. Haste nich gesehen, wie die das Kleingeld gezählt hat? Die ganzen Cent-Stücke? Ist´n echter Geizknochen. So ´ne Abzockerbraut. Vorrrsiicchhhttt!
Nummer 3 – PETRA: Also, ich sach mal so. Body is supi. Hat ne Mähne wie´n Rassepferd. Aber die lispelt doch. Haste nich gemerkt? Tsch-Tsch-Tsch- macht die dauernd. Stört doch auf Dauer.
Nummer 4 – CORDULA: … (Schweigen) … (noch mehr Schweigen) … Also mal ehrlich. Wenn eine so gut aussieht und so lustig ist, dann stimmt doch da was nicht. ( Intensives Nachdenken) Da gibt es einen Haken. Kannste glauben. Das sind die gefährlichsten Frauen. Gefääähhrrrlich. Ich rate ab. Ganz entschieden rate ich mal ab.
Die Jahre galoppierten, die Frauen kamen und gingen. Aber G. war immer für mich da. Inmitten seiner alten Röhrenfernseher, die er wie einen sakralen Tempel um sich aufgebaut hatte, war er der König der Straße. Umgeben von verrotteten VHS-Cassetten trotzte er dem digitalen Zeitalter wie ein starrsinniger Brontosaurus. Erst in der letzten Sekunde kamen die DVDs dazu, denen er grundsätzlich wie ungeliebten Verwandten begegnete.
Der heimliche Höhepunkt meiner Videothekenbesuche aber war immer das Schälchen mit den verklebten, schalen Erdnüssen auf der Theke. Ganze Tonnen muss ich davon über die Jahre weggeknabbert haben. Zu Weihnachten gab es sogar Bananenchips für die Kunden – genauso klebrig, aber noch galliger im Geschmack.
Und jetzt soll das alles futsch sein? Ja, sieht so aus. Aber wenigstens kommen die alten Kunden noch einmal zu einer ordentlichen Abgreif-Tour vorbei. Das Glöckchen an der Tür bimmelt ohne Unterbrechung. Opa Bernd steht im Lodenmantel vor der Theke und blinzelt über seinen Brillenrand: „Sie verschenken die Filme? Wirklich?“
„Ja.“ G. starrt zur Decke als würde er dort seinen umfangreichen Text ablesen.
„Alle?“
„Jahhaaaaa.“ Er wirft uns einen genervten Blick zu. „Ich mach den Laden zu.“
Opa Bernd zuckt nur mit den Schultern und schlurft in den hinteren Bereich der Videothek, dort, wo explizites Material für 18jährige steht – so selbstverständlich und nebensächlich, wie man sich eine Tüte Milch im Supermarkt holt. Fünf Minuten später hat er einen Stapel VHS-Videobänder in seinen zittrigen Händen so hoch aufgetürmt, dass er damit problemlos ins Himmelsreich vordringen könnte. Die Titel auf den Rückseiten der Bänder sprechen für einen Experten mit scheußlichem Fachwissen. Ich möchte sie nicht wiedergeben, aber ganz sicher kommen auf Opa Bernd ein paar ruhelose Nächte zu. Das Glöckchen bimmelt wieder, der Alte leckt sich einmal über die furchigen Lippen und wankt freudvoll mit seiner Beute durch die Dunkelheit.
Mirko schüttelt den Kopf. „So ein … Lustgreis … so ein … ein …“
„Sabber-Opa?“
„Genau.“ Und dabei blickt Mirko starr ins Leere. Vielleicht hat er erst jetzt verstanden, dass er sein wirkliches Zuhause verlieren wird. Das aufrechte Herz eines Berliner Malers ist eben auch nur ein umherflatterndes Blättchen im Herbstwind. „Ach, Mann …“, flüstert er.
„Eyyy, ich hab den Film zuerst gehabt.“
„Hast du nicht.“
„Wohl.“
Vor dem Actionfilm-Regal tobt ein Zweikampf zwischen zwei vielleicht 16jährigen Blondinen. Ihre Röcke baumeln geschätzte sieben Zentimeter unter den Bauchnäbeln. Die Fingernägel sind mit Strasssteinchen besetzt. Sie reflektieren das funzelige Licht im Laden wie Discokugeln. Eine der beiden trägt einen Zopf, der bei jedem Wort wie ein fuchtelnder Schweif durch die Luft saust. Dafür hat die andere wundersam wulstige Lippen, die jedes Wort wirken lassen, als würde es aus einer zerquetschten Tube kommen. Bei einer körperlichen Auseinandersetzung sind die stelzigen Stiefelchen der Beiden sicher ein Handycap – oder man benutzt sie gleich als Schlagwaffen – ich hätte dazu geraten. Aber die Beiden vertrauen in ihrer Auseinandersetzung lieber auf ihre verbale Raffinesse.
„Lass den Scheiß, jetzt. Das ist mein Film.“
„Is er nich.“
G. trommelt sich auf den Bauch und schlendert um den Tresen herum. Er baut seine imposanten 165 Zentimeter vor den beiden Kids auf. „Mädels, was habt ihr denn hier? Warum der Streit? Guckt mal, da sind doch genug Filme für alle da.“ Er nickt den beiden zu.
„Aber Iron Man 3 gibts hier nur einmal. Der is für meinen Freund.“ Und wieder saust der blonde Zopf einem empörten Aufschrei gleich durch die Luft.
„Eyy, ich hab meinen Freund im Kino bei dem Film kennengelernt. Is doch wohl wichtiger, oder nich?“ Die wulstigen Lippen vibrieren vor Wut.
„Quatsch nich rum. Du hast doch gesagt, du hast deinen Freund bei Expendables 2 kennengelernt.“
„Hab ich nich.“ Wulstis Augen füllen sich mit Tränen.
„Haste wohl.“
G. schüttelt nur den Kopf und geht zu seinem Tresen zurück. Er greift in eines der Regale und legt eine DVD auf den Tisch. Dann zeigt er auf die Zopfträgerin. „Hier. Das ist der Avengers-Film. Da mischt Iron Man auch mit. Dann gibste deinem Freund eben den. Ist auch schickes Bonusmaterial dabei.“
Zopfis verkrampftes Gesicht entspannt sich. Wulsti blickt zufrieden drein.
An die Zopfträgerin gewandt sagt G. nur: „Mann muss seine Erinnerungen ehren, kapierste? Manchmal ist das alles, was einem bleibt. Gönn doch deiner Freundin mal später so `nen Moment.“
Ich bin stolz auf meinen Freund G.. So kenne ich ihn seit vielen Jahren – ein Sartre des 21. Jahrhunderts. Ein weiser Salomon, der gerechte Urteile fällt und sein Videothekenreich wie ein sanftmütiger Fürst regiert.
An diesem Abend waren sie alle da. Die nervigen Mütter mit ihren quietschenden Edel-Kinderwagen, die gehetzten Anzugträger mit flatterndem Seitenscheitel, die veganen Aussteiger, die mit Stolz die Reste ihrer zerkauten Möhrchen zwischen ihren Schneidezähnen präsentieren , die kippenverschlingenden Kids … eben alle – und vor allem, zum letzten Mal.
Als G. kurz vor Mitternacht seinen Laden schließt, habe ich einen Kloß im Hals, der in seinen Ausmaßen einer Kanonenkugel ähnelt. „Was willst du jetzt eigentlich machen?“
„Weiß nicht. Vielleicht werde ich Busfahrer.“ Er winkt uns zu. „Bis denne.“ Dann läuft er langsam und ganz allein die Straße herunter. “
„Jetzt kriegt der auch noch Allmachtsphantasien.“ Mirko schüttelt den Kopf und stellt seine fünfte Bierflasche auf das schmutzige Kopsteinpflaster. „Was machen wir denn jetzt nur?“ Er kratzt sich kleine blaue Farbspritzer von den Fingerspitzen.
„Weiß ich auch nicht.“
„Mist“
„Riesenmist.“
Als ich drei Tage später an der geschlossenen Videothek vorbeikomme, blicken mich leere Regale durch die staubigen Fenster an. Irgendwie sieht die Bude nun viel kleiner aus. In ein paar Monaten ist hier womöglich ein Bioladen drin. Oder der vierzigste Coffee-Shop mit rasselnden braunen Bohnen. Vielleicht wird es auch ein Geschäft für Kindermode – so ein Laden, in dem sich aufsässige Prenzlauer Berg-Gören in kleine Lords verwandeln. Zumindest äußerlich.
Und irgendwann wird sich niemand mehr an G. und die vielen unglaublichen Geschichten, die wir hier erlebt haben, erinnern. Die Bilder werden in unseren Gedanken kleiner, und nach einer Weile sind sie nur noch Schatten, die kopflos vor der Sonne fliehen. Verdammt.
Über dem Knauf an der Tür klebt noch eine kleine, vergilbte Postkarte. Uma Thurman in ihrem gelben Kill Bill- Anzug ist darauf abgebildet. Ich reiße sie ab und stecke sie in mein Sakko. Erinnerungen muss man ehren.
Mann, was für ein Megamist.
(In Gedenken an meinen aufrechten Videothekenmann empfehle ich die gesammelten Werke „The true life of G“. – die gibt es hier, hier , hier und vor allem hier.) Danke G. – für die außergewöhnliche Zeit.