Die Aprilsonne wärmt meine Stirn. Der Kakao ist heiß. Die Beine strecke ich weit von mir. Es ist ein herrlicher Tag hier draußen vor meinem Lieblingscafé in Prenzlauer Berg. Vielleicht zu herrlich. So was darf nicht lange anhalten. Tut es auch nicht.
Von rechts bewegt sich ein Kinderwagen in meine Sichtachse, bedrohlich wie ein knirschender Ozeandampfer, der die Sonne verdunkelt, wird er direkt vor meinem Tisch geparkt. Am Steuer steht eine Frau mit verkniffenen Lippen. Eine Kapitänsmütze trägt sie nicht – dafür aber eine kleine fiese, und besonders eckige Brille mit Goldrand, wie ich sie eher von einem Frauenarzt erwarten würde.
Sie ruckelt und zuckelt an dem Kinderwagen herum, rollt ihn über die Schuhspitze meines rechten Fußes, erkennt den Widerstand und ruckelt gleich noch einmal über meinen Fuß – logisch – mein Bein hat ja auf dem Gehweg nichts verloren. Sie wischt sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht und lässt sich mit einem Stoßseufzer, der in seiner Dramatik an das Finale einer griechischen Tragödie erinnert, auf dem Klappstuhl am Tisch nebenan nieder und wedelt sich eine Bedienung herbei.
„Ich möchte einen Kräutertee. Den hier …“, sie tippt mit ihrem manikürten Finger auf die Karte, als wolle sie das Papier durchbohren, „aber … da sind keine Pyrrolizidinalkaloide drin, oder?“
Anna, die Studentin aus Palermo, gibt ihr Bestes ,“ich glaube nicht.“
„Ja, was denn nun? Wissen Sie es oder nicht? Pyrrolizidinalkaloide oder nicht? So was müssen Sie doch wissen. Dann fragen Sie doch nach. Und das Anbaugebiet will ich auch wissen.“
Sie meint es ernst. Ich prüfe ihre verengten blauen Augen hinter der Brille. Nein. Keine Regung, die auf einen humoristischen Hintergrund hindeutet. Sicher möchte sie auch noch den Namen des Teepflückers wissen, seinen Stammbaum auf Absonderlichkeiten prüfen, in jedem Fall aber einen Blick auf sein Gesundheitszeugnis werfen. Es geht ja immerhin um eine Tasse Kräutertee. Ich ging bisher immer davon aus, dass diese Art Tee ohnehin nur von Seniorinnen getrunken wird, die Kraft tanken , um sich im Spätherbst ihres Lebens noch einmal so richtig aufzubäumen. Gut für die Blase soll er auch sein.
Anna kommt. Keine Pyrrolizidinalkaloide im Tee. Anbaugebiet ist Dimbula irgendwo in Sri Lanka. Am Tisch nebenan wird ein „gut“ geknurrt, der Tee mit zitternden Lippen geschlürft und der Kinderwagen mit der freien Hand gewippt. Und wenn nicht gewippt wird, dann wird Zucker geplündert. Tatsächlich. Die Nerv-Mum angelt sich rund zehn Zuckertütchen aus der Keramikdose und lässt sie in ihrer Handtasche verschwinden. Alle Tütchen. Döschen leer. Zucker futschifutschi.
Der Kinderwagen vor mir ist eines dieser Luxusfahrzeuge mit Sportfelgen für über eintausend Euro. Das dunkelblaue Kleid meiner Tischnachbarin lässt auch eher darauf schließen, dass sie in ein paar Minuten ihren Platz als Chefin in einem Mineralölkonzern einnimmt – aber – ein paar Tütchen Zucker zu ergaunern, stellt für sie garantiert ein unvergleichliches Abenteuer im Hauptstadtdschungel dar. Sie ist eine moderne Großwildjägerin. Sicher wird sie am Abend ihrem Ehemann die Beute vorführen.“Ach, Schatz. Du tapferes, tapferes, kleines Ding“, wird der ihr zuraunen, zwischen seinen Fingern den Zucker rieseln lassen und ihren Kopf streicheln. So ist das in Prenzlauer Berg nun mal. Nichts besonderes.
Das erneute Knirschen von rechts nehme ich viel zu spät wahr. Ein zweiter Kinderwagen. Exakt dasselbe Modell. Und wieder eine Mutter. Viel schlimmer noch: Mum zwei kennt Mum eins. Und während ich von Kinderwagen umgeben bin, ganz so, als hätte mich eine teuflische Zeitmaschine mitten in die Siedlerzeit des Wilden Westens mit all ihren Planwagen befördert, klappern nebenan die Kräuterteetassen. Da wird getuschelt und gezischelt.
Mum 1 zu Mum 2: Du, wir haben doch da hinten diese Eigentumswohnung gekauft. Hat 250.000 gekostet. Sind auch nur 70 Quadratmeter. Aber weißt du, was wir jetzt machen?
Mum 2 streckt wie eine begeisterte Giraffe den Kopf über den Tisch.
„Nein, sag mal.“
„Na, wir ziehen da überall neue Wände rein. Da kriegen wir vier Zimmer raus, und die vermieten wir einzeln an Studenten. Du kriegst hier im Viertel locker 400,- Euro für ein Zimmer. Gut, was?“
Die Euphorie von Mum 2 ist grenzenlos, doch dann zieht sich eine breite Falte über ihre Stirn. „Und wenn euch die Studenten die Wohnung ruinieren? Du weißt doch, wie das mit denen ist.“
Mum 1 schüttelt entschlossen den Kopf. „Ach was. Wir nehmen nur Jura- oder Medizinstudenten. Das geht schon gut. Die haben doch ordentliche Elternhäuser. Das haben wir uns ganz genau durchdacht.“
Die Falte auf der Stirn von Mum 2 löst sich wie ein Zuckerwürfel im Tee auf. „Ach, na dann ist ja gut. Ein Glück …“
Eine 70 Quadratmeter – Wohnung für 1600,- Euro zu vermieten – eine großartige Idee. Einfach nur vier Studenten greifen, sie wie Hühner in einer Legebatterie einpferchen – und schon wird abkassiert. Genialer Plan. Nur in einem Punkt kann ich der Mum-Logik nicht folgen: Jura- und Medizinstudenten sind in Ordnung – während ein Germanistikstudent womöglich die Tapeten herunterreißt, das Parkett mit rostigen Schraubenziehern zerfetzt und aus Langeweile in die Steckdosen uriniert? Man müsste eine Studie über die Grundaggression von Nicht-Jura- und Medizinstudenten in Auftrag geben. Mindestens. Aber während ich noch darüber nachdenke, ist Mum 2 schon längst beim Berliner Gesundheitswesen gelandet.
„Du, mein Mann ist neulich auf der Straße umgekippt …“
Mum 1 legt beide Hände auf die Wangen und formt mit den Lippen ein besonders fleischiges „O“.
„Ohhhhh … schlimmmm ….?“
„Der war entkräftet. Ein Schwächeanfall. Viel Arbeit, eben. Aber weißt du, was wirklich ein Unding ist? Da kamen Männer von einem Rettungsdienst, und weißt du was die gemacht haben? Einfach sein Hemd aufgerissen. Das war ein Versace Hemd. Einfach aufgerissen haben die das. Richtig zerfetzt haben sie´s.“
Mum 1 schlägt die flache Hand auf den Tisch. „Na, sag mal. Aufknöpfen ging wohl nicht?“
„Habe ich auch gesagt. Aber warte mal. Unser Anwalt prüft gerade, ob die das ersetzen müssen. Alles muss man sich ja auch nicht gefallen lassen, oder?“
Die beiden nicken sich in vollendeter Synchronität zu, wie batteriebetriebene Stoffhasen.
Sie haben aber auch Recht. Ein Rettungsteam, das womöglich auf einen röchelnden Patienten mit Herzinfarkt trifft und in der Hetze nicht einmal mit spitzen Fingern die Knöpfe seines Designerhemdes öffnet – so was ist ungeheuerlich. Das gehört bestraft. Unbedingt.
Ich habe genug gehört und gesehen. Der Himmel hat sich etwas zugezogen. Ich prüfe den Wind. Eine leichte Brise von Westen. Perfekt. Meine Zigarillos ruhen in der Brusttasche meines Jacketts. Ich ziehe sie heraus und lege sie wie eine geladene Waffe auf den Tisch. Als ich mir ein Stäbchen in den Mund schiebe, kommt Leben in den Tisch nebenan.
„Also, wenn der sich jetzt hier eine ansteckt, dann …“
„Der wird doch nicht …“
Doch, wird er. Genau zwanzig Sekunden später zieht eine düstere Wolke aus karzinogenen und neurotoxischen Stoffen zum Nachbartisch herüber, wo sie eine kultivierte Welle aus Empörung und Entsetzen lostritt. Hastig kramen die beiden Damen ihr Kleingeld zusammen und werfen es auf den Tisch. Drei Euro pro Tässchen. Trinkgeld gibt es nicht. Man muss sein Geld ja in diesen Tagen zusammenhalten – Eigentumswohnungen kosten nun mal ordentlich. Und schon huschen sie die Straße hinab, heftig gestikulierend, weil ja die ungeheuerlichen Ereignisse mit dem Typen am Nachbartisch durchgezischelt werden müssen.
Hinter mir höre ich Anna.
„Boah, endlich sind die weg. Willst du nicht reinkommen? Es tröpfelt doch schon.“
Nein. Ich bleibe hier noch sitzen. Ich genieße den Ausblick.
Langsam, ganz langsam werden die Kinderwagen kleiner, wie Ozeanriesen, die trotz ihrer Schwerfälligkeit nach ein paar Kilometern nur noch schwarze Punkte am Horizont sind.
Und schließlich sind sie ganz verschwunden.