Die Schlange vor mir ist mindestens achtzig Meter lang. Alle stehen an: Das Paar aus Bamberg (sie mit echtem Biberpelz, er mit grünem Filzhut), die zwei Studenten, die sich hastig die Nasenringe aus den Löchern ziehen und die Dame aus Frankfurt, deren Stirn so unnatürlich glatt ist, dass sie wahrscheinlich irgendwo auf ihrem Rücken einen Botox-Tank verbirgt – zum minütlichen Nachsprühen.
So sieht eine ganz normale Wohnungsbesichtigung an einem herbstlichen Tag in Prenzlauer Berg aus. Ein bisschen wie ein Faschingsumzug – nur in Ernst.
Und neben mir steht Claudine in ihren High Heels, aufgetusst, als wolle sie im Blitzlichtgewitter über einen roten Läufer stelzen und dabei Handküsse ins Publikum werfen. Wir erreichen das Treppenhaus. Ich bin genervt.
„Ich habe auf so was keine Lust. Warum muss ich mitkommen, wenn du eine Wohnung suchst.“
„Damit wir als Paar ohne Kinder auftreten können. Double income – no kids. Da weinen die Makler vor Glück, kannst du mir glauben“, flüstert sie mir zu und guckt dabei über ihre Schulter, „die Studenten hier haben wir damit schon mal ausgeschaltet. Das wird ein harter Fight. Und sei bloß charmant, wenn der Makler kommt, hörst du?“
Missbraucht, gedemütigt und wie ein Tanzbär am Nasenring in die Arena der Wohnungssuchenden gezerrt. Es ist ein Albtraum. Claudine ist meine älteste Freundin, aber als sie auch noch mein Sakko gerade zieht, ihren Finger bespeichelt und mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht zerrt und irgendwo anpappt, spüre ich einen Hauch archaischer Wildheit in mir aufsteigen. Nur ein Hauch – aber er ist da.
Ich betrachte die Frankfurterin in ihrem blauen Kostüm. Das wird nicht leicht. „Darf ich mal fragen, wie du das Botox-Biest besiegen willst? Ihre Schuhe sind bestimmt noch ein paar Zentimeter höher als deine. B.B. ist auch kein Dummerchen.“
Claudine schaut ihre Kontrahentin mit dem Ausdruck höchster Missbilligung an. „Ich bin aber bestimmt fünf Jahre jünger. Mindestens …“ , und dabei gibt sie sich nicht mal die Mühe, leise zu sprechen. Sicher ein psychologischer Trick, um den Gegner zu zermürben.
B.B. dreht sich um und blickt Claudine ins Gesicht. Die beiden mustern sich mit stahlharten Augen. Die Falten zwischen Claudines Augenbrauen vertiefen sich. Sie sieht gefährlich aus. Das Frankfurter Früchtchen möchte vielleicht mitrunzeln, aber es geht ja nicht. Dafür zieht sie einen Lippenstift aus der Tasche und bepinselt sich mit einem blutigen Rot die Lippen. Claudine zieht nach, aber ihr Lippenstift ist einen Touch heller. Ich würde sagen, unentschieden.
Wir erreichen die Wohnung. In kleinen Gruppen beginnt der Rundgang. Der Makler stellt sich vor. Er ist mir unsympathisch. Es ist so ein Typ, der mal eben zum Spielen eine halbe Stunde lang mit seinen Haifischen durch das Becken planscht. Sein blondiertes, flattriges Haar hat er sich zum Mittelscheitel frisiert, ein bisschen wie Howard Carpendale – aber der ist entschieden cooler. Seine burgunderrote Krawatte quält sich über das blaue Hemd, und die Schuhe haben den Touch von Ballerinas. Man möchte ihn wie eine mexikanische Boxbirne bearbeiten. Vorbeugend sozusagen. Aber ich darf ja nicht.
B.B. lächelt ihn mit ihren prachtvollen Zähnen an, schüttelt seine Hand, und dabei untermalen ihre zahlreichen klappernden 24 Karat-Goldreifen die außerordentliche Symphonie des Heuchelns. Claudine greift in ihre Handtasche und holt einen Schlüsselbund hervor. Ein Porsche-Enblem baumelt zwischen den silbrig-grauen Schlüsseln.
„Was soll das denn? Du fährst einen zwölf Jahre alten Golf. Wo hast du den Anhänger überhaupt her?“
„E-Bay. Drei Euro. Stör mich jetzt nicht.“ Sie stakst auf den Makler zu. Fast hätte ich applaudiert: Ihr Auftritt gleicht in seiner Eleganz einer Marlene Dietrich garniert mit der rotzfrechen Attitüde einer Miley Cyrus. Ich hätte nicht gedacht, dass ein solcher Mix möglich ist – aber da ist er. Direkt vor mir.
Während die anderen Interessenten die Wohnung begutachten, bearbeiten die beiden, B.B. auf der rechten, Claudine auf der linken Seite, den Makler. Es wird gescherzt, gelacht – mit allen Mitteln um die Bude gebuhlt.
Ich muss mich abwenden. Es geht nicht anders.
Bei meinem Rundgang durch die Drei-Zimmerwohnung fällt mir ein riesiger gelber Wasserfleck an der Decke auf. Er erinnert mich in seiner Form an die Umrisse Italiens. Die undichten Fenster dürften den mediterranen Touch unterstreichen, und nahezu nahtlos reiht sich das bröcklige Mauerwerk in das naturbelassene Toskana-Feeling ein. Ein Traum für nur 1400,- Euro warm.
Da drüben, in der Maklerecke, bahnt sich wohl auch eine Entscheidung an. Claudines enttäuschte Züge entgehen mir nicht, während B.B. strahlt. Es ist ein sattes, selbstzufriedenes Lächeln, wie es nur der Sieger nach einem Boxkampf zustande bringen würde. Claudine tritt neben mir in den Türrahmen.
„Stell dir mal vor, die will sechs Monatskautionen bezahlen und auch noch die gesamte Instandsetzung . Und noch was drauf auf die Maklerprovision. Mist.“
„Und dann noch die höheren High Heels“, fast hätte ich laut gelacht.
„Der Kerl hat mir auch noch seine Karte mit so einem dreckigen Vielleicht-sieht-man-sich mal-Zwinkern gegeben.“
Die Rostbraune Karte mit den verschnörkelten Buchstaben liegt in ihrer ausgestreckten Hand. Sie betrachtet sie und für einen Moment habe ich das Gefühl, dass jemand in ihrem Kopf eine Lampe anschaltet.
„Moment mal“, flüstert sie und kramt aus ihrer Tasche das Handy hervor und prüft etwas – und zehn Sekunden später „Aha.“
Sie marschiert auf den Makler zu, diesmal aber eher im militärischen Stechschritt. Bye bye, Marlene, Ciao Miley. Ich höre aus der Entfernung nur ein, „darf ich Sie noch mal kurz persönlich sprechen?“, dann verschwindet sie im Nebenraum mit dem Herrn.
Nach fünf Minuten geht die Tür wieder auf.
Claudine ist euphorisch. Im Hintergrund steht der Makler mit knallrotem Kopf. Die Krawatte baumelt unlustig über seinem Bauch. Mit herrisch ausgestrecktem Kinn läuft Claudine am Botox-Biest vorbei und wirft ihr von der Seite ihren jahrelang erprobten Blick fürs Fußvolk zu.
„So, das hätten wir geklärt.“
Als wir im Treppenhaus stehen, platze ich fast vor Neugierde. „Was denn? Na, sag schon. Ich will es wissen. Raus damit. Los, los ….“
„Der Typ ist kein echter Makler. Der tut nur so. Dem gehört die Wohnung. Der wollte nur die Maklerprovision einstreichen. Das ist in Deutschland strafbar.“
Sie steht drei Stufen über mir und blickt auf mich wie ein Winzwürmchen herab. „Habe ich vor zwei Tagen recherchiert. Ich versuch doch immer direkt an den Eigentümer ranzukommen. Warum soll ich ein paar Tausend Euro Provision dafür bezahlen, dass mir jemand nur die Tür aufschließt? Und der Name und die Telefonnummer auf der Karte sind identisch . Nein, nein … so nicht… Soooo nicht …“
„Und nun?“
„Der ruft mich nächste Woche an.“
„Du willst die Wohnung? Und diesen blassen Molch als Vermieter?“
„Neihhheeeinnn. Will ich nicht.“ Sie tritt ganz nah an mich heran. Ich spüre ihren Atem in meinem Gesicht. „Aber diese Tussi aus Frankfurt darf die Wohnung auch nicht bekommen. Auf gar keinen Fall. Verstehst du? Darum geht es doch.“
Das habe ich verstanden. Während sich Männer bei Meinungsverschiedenheiten in ehrliche Kneipenprügeleien begeben und sich die Fäuste ins Gesicht schlagen, wird hier ein ausgebufftes Netz der Intrige gesponnen, um den weiblichen Gegner hinterrücks zu erlegen. Erstaunlich.
Als wir vor das Haus treten, atmet Claudine ganz tief ein.
„Ist ein schöner Herbsttag, was?“
Sie stakst durch die Straßen und spießt mit ihren Absätzen die harmlosen gold-gelben Blätter auf dem Kopfsteinpflaster auf – und der Oktoberwind umsäuselt voller Ehrfurcht ihr wehendes Haar.
Claudine ist meine Heldin! Ganz klar, B.B. hätte die Wohnung wirklich nicht bekommen dürfen!
Wenn Claudine eine Partei gründen sollte, und das ist sicher nur eine Frage der Zeit, werde ich dich für den ersten Vorsitz empfehlen …;-)
Ich bin dabei! Ich muss mich nur noch für das beste Paar High Heels entscheiden. 😉
„Die Gestelzten“ – wäre das ein feiner Name? Die Piraten wurden ja auch mittlerweile langweilig.
all hail to the goddess that is Claudine, and I always thought that you were the clever one, now I see the real genius here 😉
I´m just the little Sancho Pansa, while she rides the wind in her war against windmills.
Uuuuuuh! Ich verneige mich voller Ehrfurcht vor Claudine! Und bin jetzt auch ziemlich neidisch. Denn zumindest einen Hauch solch weiblicher Finessen und Verruchtheit hätte ich auch ganz gerne…
Im Vergleich zu Claudine komme ich mir trotz meiner fast sechzig Jahre stets wie eine biedere und unbedarfte Erstklässlerin vor… 😉
Aber Claudine kann zum Beispiel kein Gurkenglas aufschrauben. Ich will es nur erwähnt haben.
Okay… Mit dem Aufschrauben von Gläsern und Flaschen habe ich jetzt nicht die geringsten Probleme… Aber diese Fertigkeit nutzt einem in manchen Situationen halt überhaupt nicht…
Gibt ihr ein Messer. Reinstechen, Luft rauslassen. Das klappt! 😉
Ich sehe riesige Sauereien vor meinem geistigen, aber dennoch sehr wachen Auge.
kluger Schachzug von Claudine… sie hat mehr männliche Gene als du denkst 😉 Ich persönlich hasse Schlangestehen – allerdings scheint es zu Studienzwecken offensichtlich unschlagbar. Ich angel mir meine Wohnungen immer ohne Schlangestehen… sehr bewährtes System.
Beim lesen hab mich mir mal so überlegt, wie witzig es wäre, wenn jeder die Gedanken des anderen in solchen Momenten lesen könnte… haha
Klugheit = Männliche Gene? Ich bin überrascht, Claudia …;-)))
Und ich denk die ganze Zeit während des Lesens. „So lustiglockerzumschreienkomisch schreibt doch kein Mann…“
Aber andererseits ist da natürlich dieser Hauch. 🙂
Es ist mehr ein zorniger Tornado, der in mir wütet. Ich neige in der Regel zu Untertreibungen …;-)
Nun habe ich schon eine Wohnung und brauche (hoffentlich) die guten Ratschläge lange nicht mehr.
Bei meiner ersten Wohnungsbesichtigung im Wedding war eine Schlange bis zur nächsten Straßenseite bei der Besichtigung……unglaublich ….
Jetzt wird der Wedding besetzt…..
Das wär doch eine Idee für Berliner Grillwalker. Wohnungsbesichtigungen checken und an der Schlange Würstchen verkaufen.
Diese Geschäftsidee muss ich mir unbedingt mal durch den Kopf gehen lassen… 😉 Vielleicht könnte man sie hier in München auch umsetzen…
….. und Brezeln……
So beschrieben kann Wohnungssuche auch amüsant sein… und Hut ab vor Claudine… das sind die Frauen, die echte Klasse haben. 🙂
Schon, aber es ist auch ein bedrückendes Pandämonium charakterlicher Defizite.
Wundervoll, da werd ich ja beinahe ein wenig traurig, dass ich das hinter mir habe 🙂
Aber du könntest dich ja aus purem Vergnügen in die Schlange stellen. Es gibt auch keine Werbepausen. Versprochen.
Ich finde dem unerschrockenen Begleiter gehört der Orden, immerhin hat er im Grabenkampf tapfer ausgehalten und bringt es nun auch noch fertig zum Wohl der Lachmuskeln seiner Leser die dämonischen Machenschaften zu Papier zu bringen …
Vielen Dank – aber mittlerweile gehe ich so gebeugt, dass ein Orden an meiner Brust praktisch unsichtbar wäre. Es wäre reine Verschwendung.
Geil. Ich liebe Claudine. Claudine ist die absolute Coolness-Queen. 😀
Sie kann keinen Autoreifen wechseln – und sie stellt sich bei der automatisierten Flaschen-Leergutannahme auch recht naiv an. Ich will es nur mal angemerkt haben.
Autoreifen? Muss frau das können? (Ich ruf dann meinen Ehemann an. Alternativ meinen Schwiegervater. Oder, wenn alle Stricke reißen, den ADAC. :D)
Die Leergutannahme ist aber auch ne komplizierte Sache…außerdem kommt man da mit Wimperklimpern nicht weit. Das ist doof. ;-P
Aber wäre die Wohnung nicht die gerechte Strafe für BB gewesen?
Total schade, dass es immer so schrecklich ist mit der Wohnungssuche, aber so hast du auf jeden Fall eine tolle Geschichte zu erzählen! Wann ist die nächste Besichtigung?
Ich weiß, ich weiß … du möchtest jetzt mitkommen. Richtig?
Zuerst der paketschleppende Pannenhelfer, die 500 Euro und jetzt das hier, ganz klar – Claudine rockt! 🙂
Bah, bah und nochmals bah.
*grins*
1400 Euro Warm für 3 ZKB. Ich bin so froh ein Landei zu sein…
Und dieser Preis ist schon fast normal – und das in Berlin. Absurd.
Schöne Story. Claudine gefällt mir. Aber noch eine Frage: warum eine Wohnung ausgerechnet in Prenzlauer Berg? Was willst du denn ausgerechnet da?
Ich wohne doch bereits in Prenzlauer Berg. Aber Claudine, hinter den sieben Bergen will auch hier hin – wahrscheinlich um abends meinen Kühlschrank zu plündern.
Ich kann mich der Claudine-Fangemeinde nur anschließen. Wo gibt es Wimpel und Clubbändchen? Ich muss dringend meine High Heels anspitzen! Der Botox-Kanister ist cool 😆