Die Chips stehen auf dem Tisch. Die Dose Red Bull ist geöffnet. Der Flachbildschirm läuft warm. Gleich beginnt der Super-Duper-Directors Cut von Blade Runner. Ein echtes Jungs-Ding. Perfekt. Alles ist perfekt. Fast.
„Duuuuhuuu… kannnschhhttt du mal kohhoommen…?“
Lilli steht im Bad. Sie putzt sich seit gefühlten zehn Stunden die Zähne . Lilli ist sieben Jahre alt. Die Tochter von Petra, einer Freundin, die mich bat, auf das Kind und ihren hyperaktiven Jack Russel aufzupassen. Geködert hat sie mich mit ihrem Science-Fiction-Kanal, den sie abonniert hat. Lillis ganzes Gesicht ist voller Schaum. Ein Blick zur Uhr macht mich nervös. Nur noch zwölf Minuten.
„Was gibt es denn?“
Lilli schäumt weiter vor sich hin.
„Ich putsche jeden Schahn schweeeei Minuten. Guck mal…“
Sie zeigt mir ihre Zähne. Es versetzt mich in Panik. Wenn das so weitergeht, verpasse ich den Anfang vom Film, die wundervollen Momente, in denen Harrison Ford über sein Leben als Blade Runner philosophiert. Ich muss eine Entscheidung treffen. Sie ist drastisch.
In jeder Familie gibt es Gruselgeschichten, mit denen man Kinder erfolgreich terrorisiert hat, um sie zu bestrafen oder ins Bett zu treiben. In meiner war es der „Mann im Rohr“. Habe ich meinem Großvater hämisch lachend die Luft aus seinem Fahrrad gelassen, oder meiner Großmutter die Stimmung bei Fernsehkrimiabenden vermiest (weil ich die Sicherung herausgedreht und sie meist im Brotkasten versteckt habe), betrat er die Fläche: Der Mann im Rohr. Ein düsteres Phantom, das in den Rohren lauert, um unartige Kinder zu packen und sie durch die schreckliche Welt der Rohre zu schleppen, wo sie nie mehr auftauchten. Der Mann im Rohr war täglich Gast in unserem Haus – Ganze Nächte habe ich mit meiner Taschenlampe unter der Bettdecke verbracht, bewaffnet mit einem Taschenmesser. Man weiß ja nie …
Jetzt ist Lilli dran.
„Also … Lilli … du weißt schon, dass du seit einer halben Stunde im Bett sein solltest.“
Sie interessiert sich nicht für meine anklagende Rede und schrubbt weiter auf den Zähnen rum.
„Wenn du in fünf Minuten nicht fertig bist, kommt der Mann im Rohr. Er wird dich wegschnappen und in seine Rohre mitnehmen. Wirst schon sehen.“
Das Schrubben stoppt. Wie auf Knopfdruck. Lillis Augen sind weit aufgerissen. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und starrt in den Abfluss des Waschbeckens.
„Aber da… drin… ist doch keiner.“
„Er sitzt im Rohr. Er wartet. Du hast noch vier Minuten. Oder er wird dich holen. Tempo jetzt …“
Aus dem Zimmer nebenan tönen die wummenden Bässe von Blade Runner. Der herrliche Vangelis Sound. Verdammt.
„Also… eigentlich … wäre es besser… du gehst jetzt sofort ins Bett.“
Lilli glotzt noch immer in den Abfluss. Ein sorgenvoller Zug liegt auf ihrer Stirn.
„Da ist doch … gar keiner drin. Sag mal ehrlich … „, ihre Stimme ist ein wogendes Meer aus kindlicher Unsicherheit.
„Also, Lilli, ich würde das Risiko nicht eingehen. Wenn der Mann im Rohr kommt, ist es zu spät. All die vielen Kinder … Geh lieber schnell ins Bett.“
Sie blinzelt in den Abfluss, legt die Zahnbürste auf den Badewannenrand und huscht (immer noch mit einem Schaumberg am Mund) ins Bett. Sehr gut. Das Kind zugedeckt. Das Licht aus. Perfekt. Harrison Ford, ich komme.
Auf dem Weg zum Fernseher fallen mir die Chipskrümel auf dem Boden auf – und das zerfetzte Papier der Tüte. Peppi (ein besonders dämlicher und verharmlosender Name für den verschlagenen und dickbäuchigen Terrier) glotzt unbeteiligt aus seinem Hundekorb. Die Chips sind futsch. Ägerlich. Aber egal. Der Bladerunner jagt gerade seinen ersten Replikanten. Es ist diese riesige Frau mit dem flammend roten Haar. Dann steht Lilli im Türrahmen.
„Ich kann nicht schlafen … weil … weil… vielleicht kommt der Mann im Rohr doch noch.“
„Ach was, der ist bestimmt gerade bei deiner Freundin Nathalie.“
„Und wenn er da fertig ist … ? Ich hab ganz viele Rohre im Zimmer. Ich hab Angst.“
Es ist zum Verrücktwerden. In der Küche finde ich zwei Teelöffel.
„So du nimmst jetzt den Löffel, und dann klopfen wir zusammen die Rohre in deinem Zimmer ab. Das wirst du schon hören, wenn da einer drin ist.“
Lilli nickt. Ich robbe auf den Knien durch ihr Zimmer und klopfe mit dem Löffel herum. Sie auch. Kling.Klang.Kling. Nach einer Ewigkeit sind wir fertig. Kein Mann im Rohr da. Lilli ist sehr zufrieden. Dann klingelt es an der Haustür. Es ist ein tätowierter Zwei-Meter-Mann, unrasiert, mit einem löchrigen T-Shirt, auf dem ein schießender US-Panzer abgebildet ist.
„Wat is´n dat hier für `n Krach? Ick sitz da oben und hör hier dauernd dat Geschepper in den Rohren. Hackts hier bei euch?“
„Wir hatten Probleme mit der Heizung.“ Es ist keine Lüge. Definitiv nicht.
„Der Krach hört uff, klar?“, mault er mich an. Seine Eckzähne sind riesig und gelb. Ich prüfe die Möglichkeit einer körperlichen Auseinandersetzung und verwerfe sie genauso schnell.
„Wir suchen doch nur den Mann im Rohr“, ruft Lilli von hinten.
„Mann im Rohr? Macke oder wat? Ick bin der Mann von eens drüber, und ick mach jetze richtich Ärger. Legt euch hinne. Ick muss morgen früh raus.“
„Mann, ich wollte doch nur Blade Runner sehen … .“
Der Riese guckt mich mit großen Augen an.
„Läuft der jetze?“
„Science Fiction Channel. Ja.“
„Hab ick nich.“ Er linst über meine Schulter. „Würd ick ja jerne mal wieder gucken, echt.“
Fünf Minuten später sitzt er auf dem Sofa. Neben ihm lungert der verräterische Peppi, in der Schnauze die letzten Reste der Chipstüte. Aus den Augenwinkeln sehe ich noch, wie der Blade Runner zweimal seine Waffe abfeuert. Es ist zum Heulen.
Das eigentliche Drama geht nun im Bad weiter. Lilli kontrolliert den Abfluss im Waschbecken.
„Wenn der Mann im Rohr da jetzt doch drin ist und nur wartet?“
Ich weiß nicht, ob sie mich nur ärgern will oder es ernst meint. Es spielt auch keine Rolle. Dieses Kind muss ins Bett, egal wie. Hinter der Toilette liegt ein Werkzeugkasten. Wasser abdrehen und mit der Kneifzange das Rohr unter der Spüle aufdrehen. Das geht schnell. Lilli hockt neben mir und blinzelt in das Rohr. Ich leuchte mit einer Kugelschreiberlampe hinein.
„Kein Mann da. Bist du jetzt zufrieden?“
Sie nickt. Schweigend geht sie ins Bett und zieht sich die Decke über den Kopf.
„Und wenn der Mann im Rohr doch irgendwann mal zu mir kommt?“
„Dann schlägst du mit dem Löffelchen auf dem Rohr so lange rum, bis der Riese von oben kommt. Der hilft dir schon.“
„Na gut.“
Drüben im Wohnzimmer läuft der Showdown. Ein ermatteter Bade Runner liegt mit seinem Kontrahenten zusammengesackt auf dem Dach eines Hochhauses. Ein paar Takte später ist der Film zuende. Der Riese steht auf und geht.
„Is einfach `n geiler Film. Hat richtich jut jetan. Juti, wa, vielen Dank, wa. Ick penn jetze ne Runde.“
Und weg ist er. Meine Dose Red Bull hat er ausgetrunken. Peppi liegt ermattet und vollgefressen in seinem Korb. Lilli schläft. Ich bin fertig.
Und irgendwo in der Nähe höre ich aus einem Rohr das blecherne Lachen eines Mannes.
Tja, die altbewährten Mittel der früheren Generationen scheinen doch nicht mehr so ganz das Richtige zu sein. Vor allem dann, wenn Blade Runner ruft. Aber den gab es zu Großvaters Zeiten ja wohl noch nicht, gell?
Ich betrachte Lilli als Experiment. Phase I lief wenig überzeugend. Ich gebe es zu. Aber ich bin auch nicht bereit, aufzugeben. keine Sorge.
Schaff dir Kinder an und du hast immer was zu lachen. 🙂
can I book you for baby sitting duties ??? :)))
Sure. If you can afford I´m all yours. But… I need a spoon for my duties.
Wenn Du mich fragst (erfahrene Mutter zweier Teenager), dann kannst Du Dir den Sci-Fi-Kanal bei Deiner Freundin für alle Ewigkeiten abschminken. Kauf Dir schon mal die DVD von Bladerunner und hoffe, dass Petra als Sci-Fi-Fan nicht ihr Lichtschwert zückt, weil sie wegen Dir jeden Abend die Rohre abklopfen muß! Stehe gerne beratend zu Seite, bevor du Phase 2 initiierst …
Sie könnte die Rohre ja mit alten Socken ummanteln.
Ja klar, oder umziehen in ein Haus ohne Rohre …
Ich würde dann auf den „Mann in der Wand“ umsteigen. Mir fällt da immer was ein.
Du bist echt ein gruseliger Babysitter!
Aber zuverlässig. Da kann man nicht meckern.
I have an absinthe spoon with your name on it ….
Hauptsache, Peppi hat´s geschmeckt! Ich klopfe heute abend auch mal an meine Heizungsrohre 🙂 Man weiß ja nie…
Aber ich will dann kein Gejammer hören, wenn das schief geht.
>Dieses Kind muss ins Bett, egal wie. Hinter der Toilette liegt ein Werkzeugkasten.
An dieser Stelle hab ICH kurz Angst gekriegt… ;-).
Köstliche Geschichte!
Du dachtest… dass ich… womöglich mit einer Kneifzange …?
Erschreckst du etwa unschuldige Kinder? O.o
Deshalb habe ich Blade Runner auf DVD 😀
Wann soll ich kommen?
Wenn du Angst vor dem Mann im Rohr hast…
Sehr amüsant! Danke! Ich dachte schon in der ersten Sekunde: Wenn du jetzt dem Kind Angst macht, dann kannst du Blade Runner vergessen! 🙂
Ich habe das nicht in der ersten Sekunde gedacht. Leider …
Ich habe bei so einem Anlass mal angedroht, der Kleinen meinen Bleistift ins Auge zu rammen. Hat super funktioniert 😀
Sie hat mir zwar kein Wort geglaubt, aber den Ernst der Lage erkannt 😉
Mir erscheint ein Löffel als Tatwaffe aber irgendwie ausgebuffter.
Da hasse aber einen gucken lassen, mit der ersten Ansage, Herr Menard!
Auf Lily lässte künftig besser jemand anderen aufpassen, weil das mit den Rohren merkt die sich! 😀
Die Mutter stand bestimmt schon bei dir auffer Matte … 🙂
Mein Auftrag lautete: Lilli muss ins Bett. Der Auftrag wurde auf fachgerechte Weise von mir erfüllt. Selbstlos. Völlig uneigennützig – auf den Film habe ich ja verzichtet. Kurzum: Hier spricht ein Top-Psychologe zu dir. Oh ja…
Also ich finde, Du warst nicht konsequent genug. Im Rohr nachsehen, ob der Mann da drin ist. Pah! Hättest ruhig noch ein bissl mehr drohen können, so dass sich das Balg nicht mehr aus dem Bett raustraut
zum Thema Löffel: http://www.youtube.com/watch?v=9VDvgL58h_Y
Was du dir hier erlaubst, ist WIDERLICH, SCHEUSSLICH und UNMENSCHLICH. (Und nein, ich werde nicht zugeben, dass mich dieser Löffelbeitrag so amüsiert hat, dass mir Tränen übers Gesicht liefen. Leider herrlich…;-))))
It’s what I do.
Ich kann heute bestimmt nicht einschlafen! 😉
Dein Mann im Rohr ist um Klassen besser als der Schwarze Mann, mit dem man mir früher stets Angst gemacht hat.
Ich hoffe, Lilli’s Mutter schickt dir nicht eines Tages die Rechnungen für die Behandlung beim Kindertherapeuten zu. 😉
Es war mir auch wichtig die Legende vom Mann im Rohr in die nächste Generation zu transportieren. Der Kerl soll unsterblich werden. Verdammt nochmal !
Köstlich!
Das hat man davon, wenn man kindern „geschichten“ erzählt 😀 !