Es rumpelt und scheppert im Hinterhof. Es knirscht und klappert. Es ist nach Mitternacht. Üblicherweise bohre ich mir die Zipfel meines Kopfkissens ganz tief in die Ohren, um besser schlafen zu können. Hat sich bewährt. Der Lärm dringt dennoch in meine Gehörgänge. Also, raus aus dem Bett, die alten Holzfenster aufreißen und viel Luft in die Lunge pressen, um den Ruhestörer so richtig anzubrüllen. Was ich sehe, überrascht mich.
„Alle mal herhören, Flaschen zu verkaufen. Flaschen…. ganz viele, leere Flaschen… Halloooooo….“, diese hohe Stimme ist mir bekannt.
Es ist Mad Thomas. Unser Kiez-Irrer. In Berlin hat jeder Bezirk mindestens einen. In Prenzlauer Berg ist es eben Mad Thomas. Man kann sich seinen Irren nicht aussuchen. Man kriegt ihn irgendwie auf geheimnisvolle Weise zugeteilt. Ganz sicher gibt es eine Behörde dafür.
„Will denn keiner leere Flaschen? Ganz neue, leere Flaschen… gaaaaaannzzz billig…. leeeeere Flaschen…. biillliiiggg….“, er zerrt seinen geklauten Einkaufswagen über den Hof und preist inbrünstig und polternd seine Ware an.
Mad Thomas begegnete mir im vergangenen Jahr das erste Mal. Hinter unserem Supermarkt hatte er sich ein kleines Haus gebaut. Aus leeren Plastik-Pfandflaschen. Fein säuberlich zusammengeschnürt, gestützt durch den Stamm eines Baumes entstand ein architektonisch beeindruckendes Gebäude. Und weil Mad Thomas nur irre aber nicht doof ist, hat er nur durchsichtige Plastikflaschen benutzt, die ihm, den Hausherren, den Blick nach draußen ermöglichten. Schlauer Thomas. Oft saß er auf einem Garten-Klappstuhl in seinem Palast und winkte uns zu. Aber seit einiger Zeit war der Prachtbau verschwunden. Ich habe mich gewundert, wo all die Flaschen geblieben sind. Jetzt weiß ich es.
„Mann, was machst du denn hier Nachts. Leg dich schlafen. Verkauf deine verdammten Flaschen doch am Tag.“
Mad Thomas guckt mich im fahlen Licht der Hofbeleuchtung entrüstet an.
„Da ist doch keiner hier. Nachts weiß ich, dass ihr alle da seid“, er lächelt entrückt zu mir hoch. Die Logik eines Irren. Wie er da so steht, mit seiner kurzen Hochwasserhose, seiner Goldrandbrille. der wirren Frisur und den riesigen braunen Filzschuhen – man könnte fast gerührt sein. Ich bin es. Keine Ahnung, was einen über vierzigjährigen Mann so verändert haben könnte.
„Na gut. Ich kauf dir deine Flaschen ab. Danach legst du dich in dein Bett, klar?“
Mad Thomas nickt.
„Was willst du für den Kram haben?“
„Hundert Euro“, quäkt er fröhlich zu meinem Fenster hoch.
Es ist empörend. Ich habe damit gerechnet, den Deal erfolgreich mit zwanzig Glasmurmeln abschließen zu können. Nein. Es müssen Hundert Euro sein. Irre, aber geschäftstüchtig. Eine tolle Kombination. Ich krame zehn Euro aus meinem Portemonnaie und rase im Pyjama durch das Treppenhaus. Vielleicht erkennt Mad Thomas ja den Unterschied zwischen den Scheinen nicht. Ganz sicher nicht. Den trickse ich aus. Und dann kann ich endlich weiter schlafen.
„Hallloooo, schön dass du kommst. Sind schöne Flaschen, ne…?“, begrüßt er mich.
„Ja, sehr schön. Ganz toll.“
Ich reiche ihm die zehn Euro. Er guckt den Schein lange an. Dann mich. Dann wieder den Schein. Und schon wieder mich.
„Da fehlt eine Null“, sagt er in sachlichem Banker-Slang.
Die kleinen Wellen des Wahnsinns schwappen zu mir herüber. Ich spüre, wie sie verlockend an meinem Hirn herumzupfen, mich einlullen und verführerisch auf ihre Seite zu ziehen.
„Hast du was zu schreiben?“, frage ich ihn.
Er nickt und zieht aus seiner Hosentasche einen abgekauten Filzer hervor. Ich male ihm eine hübsche Null auf den zehn Euro schein und strahle ihn an.
„Bitte sehr. Hundert Euro…“
Mad Thomas schaut mich mit traurigen Augen an.
„Du willst mich beschummeln, oder… ?“
Ja, will ich. Was nun? Da steht ein trauriger Irrer vor mir, der sich nicht abzocken lassen will. Immerhin verkauft er mir hier praktisch sein Haus. Hundert Euro will ich ihm aber auch nicht geben. Ich wiege Moral und Geschäftsinn ab, als über uns, im ersten Stock, ein Fenster aufgerissen wird. Es ist die hübsche Krankenschwester aus Hamburg. Sie trägt ein weißes Unterhemd mit Blumenaufdruck. Sie gähnt. Hübsch ist sie selbst jetzt noch. Aber auch mürrisch. Sie faucht die Worte zwischen ihren unmunter herumbaumelnden Haarsträhnen hervor.
„Was ist denn hier los? Ich hab´ in zwei Stunden Dienst und ihr brabbelt hier die ganze Zeit rum. Zehn Euro… hundert Euro… hackts bei euch? Seid ihr euch mal einig, oder was? Legt euch doch hin, mann…“
Ich schnaufe empört nach oben, dann endlich erkennt sie den Mann neben mir.
„Ist das… der Thomas…? Der Verrückte… ?“
Ich nicke.
„Mist.“
In der Erkenntnis, dass diese Situation nicht mit Ratio zu lösen ist, schließt sie schnell das Fenster. Dafür sehe ich oben im vierten Stock das Licht einer Nachttischlampe. Meine Hausmeisterin ist aufgewacht. Der Drache ist nachtaktiv. Jetzt wird die Luft dünn. Wir müssen schnell handeln.
„Also pass auf. Du kriegst zehn Euro. Du kannst deine Flaschen behalten und dafür gehst du einfach in ein anderes Haus. Sagen wir mal…„, ich überlege kurz, „… du gehst rüber in die Nummer Zwölf. Da ist die Haustür sowieso immer offen.“
Das gefällt Thomas. Sogar sehr gut. Er lächelt fröhlich und schiebt sich den knisternden Schein in die Tasche. Die Filzlatschen huschen über den Hof. Der Einkaufswagen poltert über den Asphalt. Er dreht sich noch einmal um.
„Danke. Danke. Danke.“
Aber bitte doch. In der Nummer Zwölf wohnt der Idiot, der mich jeden morgen einparkt. Das war sehr gut investiertes Geld. Einen Moment später fällt mein Kopf in die weichen Federn des Kopfkissens. Ich schlafe lächelnd ein.
Zwei Tage später begegnet mir Mad Thomas auf der Straße. Der Einkaufswagen mit den Flaschen ist verschwunden. Dafür schleppt er mindestens ein dutzend benutzter, abgelaufener Schuhe mit sich rum.
„Sind schöne Schuhe, ne? Willst du ein paar kaufen?“
„Eigentlich nicht. Wo sind denn deine Flaschen?“
Er schaukelt mit den Schuhen hin und her, wohl hoffend, dass ich seinen Schnäppchen nicht widerstehen kann.
„Ach, die… ich hab´neulich noch zwanzig Euro bekommen, da drüben in der Zwölf, nur damit ich verschwinde. Na, und dann habe ich die Flaschen im Supermarkt abgegeben.“
Es erstaunt mich. Er sieht es mir an.
„Weißt du… auf Dauer immer nur mit den Flaschen… das war mir dann doch zu langweilig… ich wollte mal was Neues…“
Einen Moment später wackelt er die Straße herunter. Ein durchtriebener, kleiner Geschäftsmann, der genau weiß, was er im Leben will.
Irre.
Was ist den mit eurer wurstigen Hausmeisterin gewesen? Die hat doch bestimmt einen hinter die Binde gekippt, am Abend …
Sonst hört die doch jeden Mülldeckel-Quietsch, noch bevor das Ding sich hebt!
Wenn man’s Personal braucht, isses nicht da.
Na, das Übliche. Das Fenster hat sie noch aufgerissen. Da waren wir aber schon wieder weg. Nach meinen Recherchen ist es auch davon abhängig, ob sie im Schlafzimmer nächtigt oder in einem anderen Zimmer ihrer Wohnung. Je nach Schnarchvolumen ihres Gatten. Es ist schrecklich…
… vielleicht ist es auch uhrzeitabhängig … Wenn du wieder Müll hast und einer radaut, dann nimmste den halt auch mit runter! 🙂
Das bringt doch nichts. Nach 22 Uhr setzt sie diese verdammte Metallstange über den Tonnen ein. Da ist nichts zu machen.
Ah, das habe ich vergessen …
Gibste dem Pantoffelfreund das nächste Mal auf 12 mit! 🙂
Der ist Geschäftsmann. Das ist unter seiner Würde.
Irgendwie gefällt mir Mad Thomas… Unser „Viertel-Irrer“ pflegt zu nachtschlafender Zeit aus voller Kehle Opernarien zu schmettern – und das recht gekonnt, der Kerl hätte bei DSDS gute Chancen… Wenn man die zwei Irren zusammen bringen könnte… 😉
Meiner kann sicher auf seinen leeren Pfandgutflaschen „Strawberry Fields“ klimpern. Der kann das. Ganz, ganz sicher.
Hach, das wäre ja genial – mein „Irrer“ singt zu nachtschlafender Zeit zum Geklimper deines „Irren“ – unter dem Hoffenster der Hausmeisterin…
Das wäre Krieg. Nichts anderes. Und ich bräuchte eine neue Wohnung. Mindestens.
Gute Nacht wünscht Momo!
P.S.: Dit ist Bärlin, voller Jeschichtn, danke.
Gute Nacht??? Jetzt schon??? Auf welcher Seite des Äquators lebst du denn?
auf der deinen, aber das bezog sich auf deine Nächte allgemein, so voll mit Irren und Thomassen
Ach, egal. Für mich lebst du jetzt am Nordpol in einem Eishaus… inkl. nervender Eskimo-Familie.
Wie du meinst 😉
… und Lebertran trinkst du auch.
…und weiß nicht mal , was das is…
Das Bauwerk aus Flaschen hätte ich ja zu gerne gesehen — bestimmt ein verkanntes Kunstwerk!
Bei den Quadratmeterpreisen in Berlin durchaus eine schlaue Idee. Hat er gut gemacht.
Oft sind die sogenannten Irren die Gesunden. Viel schlimmer finde ich die Normopathen, die so normal sind, dass es schon wieder krank ist. Neunzig Prozent dieser Normopathen bevölkern unglücklicherweise unsere schöne Welt… Die Geschichte gefällt mir
Und wenn du noch ein hübsches Paar Schuhe brauchst, dann…;-)))
Klasse! Wünsche mir weitere Mad Thomas-Geschichten von dir 🙂
Ohhh, keine Sorge… gestern sah ich ihn mit einer Matratze unterm Arm. Da ist etwas in Bewegung geraten… Meine Neugierde ist grenzenlos.
Bin gespannt!
die Freiheit und Narren …überall
und einen dreissiger pro Schicht..
das nenn ich Wachstum.
arme Sau!
Er wirkt aber sehr zufrieden. Man mag es nicht glauben. Ist aber so.
doch glaub ich..
wer nicht als allgemeingefährlich gilt oder durchkommt hat Narrenfreiheit
mit den typischen Medikamentesalat angereichert..
bevor er seine Misere verinnerlicht
und nur noch Banken ausraubt…hihi
Ich mag deinen Schreibstil! 🙂 Gefällt mir sehr gut!
ach, das ist doch ein netter Irrer… hab anfänglich überlegt, ob das der gleiche Prenzlauer Berg Irre ist, der uns bei unserem letzten Berlinbesuch die Sporen gegeben hat. Aber nein, du hattest Glück – ein Irrer mit lichten Momenten. Deine Beschreibung wie der Wahnsinn an deinem Hirn zupfte – das birgt Potential. Aber sind wir nicht alle ein bißchen BLUNA – frage ich mich gerade. Mir gefällt mein kleiner Wahnsinn schon ganz gut. Berlin ist halt eine Irre Stadt… wunderbar – auch deine Geschichte.
Die Geschichte von dem Irren, der die Sporen gegeben hat, würde ich gerne hören. Gehts los?
*haha*… leider hat nicht ER die Sporen gegeben, sondern WIR.;)
Und dabei war es sooo ein schöner Abend. Wir waren gut gelaunt, hatten vorzüglich gespeist in einem tollen französischen Lokal. Die Kellner waren ausgesprochen zuvorkommen und gutaussehend !!! und wir hatten tolle Gespräche und viele schöne Begegnungen.
Das animierte uns zum ausgelassen sein… zum lachen… und ja – zum U-Bahn fahren… Es war eisig kalt und wir überlegten uns gerade, wenn wir das nächste Mal nach Berlin kämen, könnten wir in der U-Bahn kampieren… schön warm und das leise Rattern der Räder hat so was monotones, einschläferndes… dies weil unser gebuchtes Hotel überbucht war und wir ohnehin schon ein paar Abenteuer erlebt hatten… ein kleiner Joke sollte es sein.
Ich vermute mal, dass der durchaus muskulöse Herr, im mittleren Alter, mit dem starren Blick, und Bierflasche in der Hand, sich durch das belauschen unseres Gesprächs sich angesprochen fühlte. Leider verkannte meine Freundin Tina die Situation und sie dachte, hier nimmt sich jemand selbst auf die Schippe… nun ja – wir hatten zwei Flaschen vin rouge – das erklärt vielleicht so manches. Ich wurde schlagartig immer nüchterner und irgendwann dachte ich, ich sitze zwischen zwei Irren. Die beiden redeten über mich hinweg völlig wirres Zeug, verstanden hat niemand was. Mein Blick wanderte besorgt zu dem Mann mit der Bierflasche der Griff um selbige wurde immer fester, die Knöchel traten weiß hervor, der Blick wurde noch starrer, die ganze Körperhaltung glich einem Tiger kurz vor dem Angriff, Tina wurde immer lustiger und fideler und der Mann glich einem Dampfkessel kurz vor der Explosion… und irgendwann zog er ein Messer. Die Bahn hielt und ich schnappt Tina am Kragen… aber der Irre stieg auch mit aus. *seufz*… und er kam uns hinterher.
Tina – klein und körperbehindert hat dann auch endlich kapiert, dass dieser Kerl nicht mit ihr schäkerte… und dann kippte das Ganze ins Gegenteil – sie wollte nun dem Kerl ans Leder… ein schwieriges Unterfangen, Selten habe ich um Hilfe gerufen, aber das war so ein Moment… und tatsächlich kam uns ein Mann zur Hilfe, dem ich gerne noch gedankt hätte. Noch heute denke ich dankbar daran zurück, mit welcher Nonchalance und Ruhe er die Situation beruhigte – zumindest kurzfristig. Er führte den Irren ganz ruhig ein Stück weg von uns – zeigte uns, dass wir die Sporen geben sollten – dann kam seine Bahn und der Irre hechtete wieder hinter uns her… Die Fußgängerampel war gerade rot… Tina blieb stehen… es war 3 Uhr morgens, ein durchtrainierter Irrer mit glasigem Blick und einem Messer lief hinter uns her – das war genau der richtige Zeitpunkt die Strassenverkehrsregeln zu beachten 😉 Ich schnappte sie wieder am Kragen und trug sie mehr als dass sie lief… Mit zitternden Händen schloss ich die Tür zum Hinterhof unseres Domizils auf, um dann völlig erschöpft erst mal auf die Treppe sinken. Und meine Freundin Tina – sie lachte ein wenig irr – ich glaube, wir waren im gleichen Kino, aber sie war in einem anderen Film 😉
Und ja, ich glaube, der hieß nicht Thomas 😉
Das ist der längste Kommentar ever… gib zu, du willst den Blog übernehmen…. teuflische Claudia…
nun – du wirst dich zukünftig vor derlei Fragen hüten 😉 DU wolltest es wissen. Und ja – Claudia hat ihre eigenen Blogs… weißt ja, einer reicht nie.
Wenn ich verreise, lege ich dir den Blog-Schlüssel unter die Fußmatte…;-)
Damit ich deinen Blog ausführe, mit den Worten spiele und deine Fans gieße und pflege ? Schlüsselgewalt kann ungeahnte Ausmaße annehmen 😉
Warum lesen immer noch Menschen deine Worte und antworten auch auf deine Worte, statt das Gefühl und den Sinn zu lesen und nichts zu sagen…
Weil es Menschen sind. Ist doch ganz einfach…;-)
Die dürfen und sollen das auch. Dafür ist der Blog da. Und vielleicht… nur vielleicht… guckt sich der eine oder andere den nächsten Irren, oder den, den man dafür halten mag, etwas genauer an.
Das würde mir gefallen.
Es lohnt sich.
Wirklich.