Es ist 23 Uhr 10. Ich stehe vor dem Berliner Hauptbahnhof und warte auf Claudine . Sie wollte mich abholen. Sie ist nicht da. Die Funktionsweise von zwei sich gleichzeitig bewegenden Uhrzeigern ist ihr ein absolutes Mysterium. Während um mich herum Menschen mit Rollkoffern in Taxis einsteigen oder von ihren Lieben abgeholt werden, stehe ich wie ein ungepflückter Pilz dumm herum. Dann klingelt mein Handy. Eine atemlose Stimme rauscht aus der Leitung.
„Du… du… du glaubst nicht, was mir passiert ist… also…“
„Wo bist du denn?“
„Na, ganz nah. Ich kann dich von hier aus sehen. Hier hinten am Museum. Hier…“
In einiger Entfernung sehe ich eine winkende Person. Neben ihr ein Polizeiwagen. Und daneben mein Auto.
„Bist du das?“
„Na klar… jetzt komm schnell her… schnell… schnell…“
Ich brauche zwei Minuten. Dann entfaltet sich vor mir das ganze Debakel. Claudine steht in einem grünen, knielangen Nachthemd und mit Blümchenbadelatschen an den Füßen neben dem Polizeiwagen. Obenrum trägt sie eines meiner Sakkos.
„Warum hast du mein Jackett an?“
„Hä? Na, nur im Nachthemd geht doch nicht, oder?“
Umwerfend. Ihre Logik ist schlichtweg umwerfend. Nun klettert ein grauhaariger, dicklicher Beamter mit Schnäuzer schwerfällig aus dem Polizeiwagen. Neben ihm steht eine Kollegin mit blondem Zopf. Er streckt seinen schweren Zeigefinger aus.
„Kennen Sie diese Frau?“
Ich hätte große Lust, ein lautes „nein. Noch nie gesehen“ auszurufen. Stattdessen knirsche ich voller Unlust die Worten zwischen meinen Zähnen heraus.
„Ja. Die kenne ich.“
Der kugelrunde Beamte rückt seine Kappe so tief ins Gesicht, dass seine Augenbrauen verschwinden. Es ist eine einstudierte Geste, die ihn mit nur einer Handbewegung zum „bad cop“ macht.
„Die Dame ist wie der Teufel an uns vorbeigefahren. Mit einem Affenzahn. Und dann hat sie uns auch noch geschnitten. Und obendrauf noch Badelatschen an den Füßen.“
Ich werfe Claudine einen finsteren Blick zu. Es ist einer dieser Moment, wo ich mich gerne in völliger Illoyalität auf die Seite der Beamten stellen möchte. Ich schweige. Claudine spricht. Es ist eine flammende Rede der Anklage. Gegen mich. Natürlich.
„Ja, siehst du, weil du immer so einen Stress mit dem Pünktlichkommen machst. Immer dieses Rumgeglotze nach der Zeit. Das stresst mich total. Da passieren dann solche Sachen.“
„Waaaas? Du wusstest doch seit zwei Wochen, dass ich heute ankomme. Warum läufst du hier im Nachthemd rum, wenn ich mal fragen darf?“
„Mann, ich habe es verschlafen. Und als der Kalender im Handy piepste, bin ich gleich los. Meinst du, ich hatte da noch groß Zeit, mich anzuziehen?“
Ich trete ganz nahe an ihr Gesicht heran. Unsere Nasen berühren sich fast.
„Du bist doch frisch geschminkt. Glaubst du, ich sehe das nicht?“
„Ich musste mich in den paar Minuten entscheiden. Anziehen oder Schminken. Ungeschminkt geh ich nicht aus dem Haus. Das weißt du doch ganz genau.“
„Aber nackt ist o.k., ja?“
Die Beamtin mit dem Zopf, Zeugin des kleinen Kammerspiels, nickt Caudine zustimmend zu.
„Warum hast du überhaupt mein Auto genommen?“, frage ich.
„Weil es direkt vor der Haustür stand und ich nicht mehr wusste wo meins steht. Immer dieses Hin und her mit den Parkplätzen. Ganz irre wird man hier in Berlin.“
Die Blonde Beamtin nickt schon wieder. Es ist zum Verrücktwerden. Ihr männlicher Kollege nimmt zum Glück wieder Claudine ins Visier.
„Papiere haben sie auch nicht dabei. Aber da haben Sie sicher auch eine Ausrede parat, oder?“
Claudine klopft auf die Taschen meines Sakkos. Es schlackert leblos und riesengroß um ihren Körper.
„Na, das können Sie aber glauben. Die Taschen in dem Sakko sind alle zugenäht. Er da“, sie zeigt auf mich, „ist der einzige Mensch, den ich kenne, der bei seinen Sakkos, nicht die Taschen aufreißt. Die kommen so vom Werk, und er lässt sie einfach zu. So was gibts´doch nicht. Wo soll ich da Papiere reinstecken? Und in meinem Nachthemd gibts ja wohl keine Taschen. Ist doch logisch, oder?“
Die Blondzopf-Polizisten nickt ihr schon wieder wie eine Aufziehpuppe zu. Ihr Kollege nimmt mich kurz zur Seite. Er vergleicht die Fahrzeugdaten und guckt mich betroffen an.
„Sie sind nicht verheiratet, oder?“
„Um Gotteswillen. Nein. Nur Freunde.“
Er atmet in einer Welle von Mitgefühl fast erleichtert auf.
Claudine unterhält sich derweil mit der Beamtin. Sie scherzen. Sie lachen. Irgendwann zuppelt die Polizistin sogar an Claudines Nachthemd herum, und ich höre Wortfetzen, „Viktorias Secret…? Ja?… Schön… ach, schön…“
Es ist unfassbar. Der Beamte neben mir zweifelt auch an seinen Sinnen. Er schüttelt ungläubig seinen Schnauzer wie eine pitschnasse Robbe hin und her. Wir treten aus dem Wagen. Er blickt Claudine ernst an.
„Sie kommen aus Bayern, ja?“
Claudine nickt artig.
„Ich weiß nicht, ob das bei Ihnen üblich ist, sowas…“, er zeigt auf das Nachthemd, „ich will heute mal nicht so sein. Aber ich sage Ihnen, wenn ich Sie noch mal auf meinen Straßen erwische, dann gibt´s richtig Ärger. Da mach ich ordentlich Rambazamba, klar?
Claudine nickt noch einmal. Ein paar Minuten später sitzen wir in meinem Auto. Über ihrem Gesicht hängt ein allumfassendes Lächeln.
„War doch gar nicht so schlimm, was? Du, wollen wir noch was trinken gehen?“
„So? Im Nachthemd? Mit Badelatschen?“
„Also, ich bin jedenfalls viel zu stark geschminkt, um mich jetzt einfach so wieder hinzulegen.“
Sie guckt mich von der Seite an.
„Darf ich fahren?“
„Nein.“
Sie klappt den Schminkspiegel am Beifahrersitz herunter, macht einen spitzen Mund und sieht dabei wie eine selbtgefällige Diva aus. Im Radio spielen sie „Fools like us“ von Echo and the Bunnymen.
Claudine singt es mit.
Alle Zeilen.