Das Joggen im Volkspark Friedrichshain ist viel mehr als schlichter Sport, der die Gelenke ölt. Es ist in gewissem Sinne ein Krieg mit dem Läufer, der einem von der anderen Seite entgegen kommt. Ich zum Beispiel laufe grundsätzlich acht große Runden um die Skaterbahn. Das sind etwa 10,4 Kilometer. Ich laufe durch Büsche. Ich springe über Äste, die in meinem Weg liegen und ich registriere alles, wirklich alles, was mir auf meinem Lauf begegnet. Ein Vater der seinen achtjährigen Sohn anbrüllt, weil der versucht, einem Hund die Augen mit einem Stock auszupieksen. Zack. Gespeichert. Die Gang der zerflederten Grungepeople, die mal wieder ein Seil zwischen den Bäumen gespannt hat, auf dem sie unbeholfen balancieren. Abgespeichert. In der nächsten Runde kommt es womöglich zu Knochenbrüchen. Das steigert die Erwartung und motiviert zum Weiterlaufen.
Heute hat sich der Himmel zusammengezogen. Es tröpfelt. Wie immer an diesem Sonntag kommt mir von der anderen Seite eine Läuferin mit wackelndem Zopf entgegen. Sie lächelt nie. Sie mustert mich mit mürrischem Blick. Warum auch immer. Ihre dunklen Augenbrauen kleben wie verklemmte Sicheln an ihrer Haut. Nun ist es so, dass wir uns bei jeder Runde begegnen, sie läuft mit dem Uhrzeigersinn, ich dagegen. Bei jeder Runde kontrollieren wir ohne Worte, wer schneller gelaufen ist. Sie tut es. Und ich tue es auch. Schon seit anderthalb Jahren. Kommt sie mir auch nur in einer Runde bei unseren Begegnungen näher, laufe ich die nächste Runde schneller. Ist doch klar. Wer verliert schon gerne? Heute ist es anders. Aus ein paar Regentropfen ist in der dritten Runde ein handfester Wolkenbruch geworden. Am liebsten würde ich nach Hause laufen. Aber sie läuft weiter. Also laufe ich auch weiter. Und weil ich weiter laufe tut sie es wahrscheinlich auch. In der fünften Runde klebt mein Longsleeveshirt am Körper und meine Hose macht dumpf klatschende Geräusche beim Laufen. So sehr ist sie mit Wasser vollgesogen. Bei ihr sieht es nicht besser aus. Ihre Haare hängen in Strähnen vor den Augen. Ihr graues Oberteil sieht wie ein Schwamm aus. Weiter.
Irgendwo am Rand steht ein dürrer 25jähriger Typ, der wie Jesus oder auch Sebastien Tellier aussieht. Er riecht ungewaschen. In seiner Plastiktüte schleppt er wahrscheinlich sein ganzes Hab und Gut mit sich herum. Er grinst mich an. Weiter. Bloß weiter. Runde für Runde.
Mittlerweile ist der Boden aufgeweicht und ich muss über Pfützen springen, wenn ich nicht auch noch nasse Füße bekommen möchte. Da ist sie wieder. Diesmal, und das irritiert mich wirklich, grinst sie mich an. Ich habe es mir nicht eingebildet. Sie lächelt. Warum? Weil ich mit nassem Haar völlig idiotisch aussehe? Oder weil sie an mir eine Schwäche entdeckt hat, die sie glauben lässt, sie würde unseren Wettbewerb gewinnen? Das macht mich wütend, und ich laufe noch schneller. Jesus steht in der Zwischenzeit unter einem Baum. Er hat sein T-Shirt ausgezogen und starrt in den Himmel.
In der achten Runden passiert es dann. Ich sehe sie schon aus der Entfernung. Der graue Punkt kommt immer näher. Und diesmal starrt sie mir ins Gesicht und bewegt ihre Lippen: „Jetzt gib doch endlich auf“, ruft sie mir zu.
Ich habe es mir nicht eingebildet. Sie hat gesprochen. Das erste Mal seit anderthalb Jahren. Sie hat den heimlichen Pakt gebrochen. Wie konnte sie nur? Ich drehe mich nach ihr um. Sie läuft noch eine halbe Runde weiter und verschwindet dann irgendwo auf der kleinen asphaltierten Anhöhe. Sie gibt auf. Tatsächlich. Der Regen stört mich nicht mehr. Ganz im Gegenteil. Er ist mein Freund. Wenn wir uns nächste Woche wieder begegnen, wie wird es dann sein? Anders? Werden wir so tun, als wäre nichts passiert? Keine Ahnung. Ich laufe zum Ausgang des Parks. Jesus steht auf dem ausgetrampelten Pfad. Er trägt nur noch seine Unterhose. Er steht mitten im Regen und jongliert mit leeren Pfandgutflaschen und sieht dabei so schrecklich glücklich aus.
Diesmal lächele ich zurück.
Und irgendwo da oben bohrt sich die Sonne durch die Wolkendecke.
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Ich frage mich gerade, weshalb hier noch kein Kommentar steht? Dabei ist es doch so amüsant!
🙂 Entstand denn nun eine erneute Lauf-Begegnung?
Vielleicht seid ihr euch ja gar nicht mehr begegenet? Der Grund dafür könnte sein, dass sie nun wie Du gegen den Uhrzeigersinn rennt. 😉